Sisyphos ist St. Paulianer

Sisyphos ist St. Paulianer.

Wir müssen uns den St. Pauli Fan als glücklichen Menschen vorstellen – so, wie sich Albert Camus Sisyphos.

Steht man auf den Rängen des Millerntor fragt man sich schon ab und an zwei Dinge: Was mache ich hier eigentlich? und Was steht auf diesem Banner? Ersteres kann man sich mit Albert Camus erklären.

Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder [recte: jedes] Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
– Der Mythos des Sisyphos: 6. Aufl., Reinbek, 2004. S. 159f.

Das Leben ist ein absurdes Schauspiel. Sinn sucht man vergebens, es gibt keinen (weswegen Camus übrigens die Wahl, ob man diesen Unsinn mitmachen möchte, ganz am Anfang seines Essays „Der Mythos des Sisyphos“, von 1942, als logische Möglichkeit aus dieser Erkenntnis nennt. Ich gehe da mit ihm mit, dass sich ein Weitermachen lohnt – aber dazu später mehr) – keinen göttlichen, keinen biologischen, keinen materiellen Sinn. Das Leben ist absurd.

Und welcher Fußballfan würde das nicht autoempirisch bejahen können. (Nur in einer absurden Welt, kann es Schiedsrichter wie Herrn Exner geben 😉

Die Choreographie der Nordkurve (auch so eine kleine Absurdität, dass man die eigene Choreografie erst im Nachhinein auf Fotos bewundern kann, während man währenddessen wenig mitbekommt, weil man mittendrin ist) am letzten Spieltag zeigte einen Spieler (oder Fan, oder Funktionär?) des FC St. Pauli, wie er einen großen Stein in Form unseres Logos einen Berg hinauf wuchtet (Titelfoto Ariane Gramelspacher, mit frdl. Genehmigung).

Und tatsächlich passt dieses Bild sehr gut. Mit welcher Kraft und Energie haben wir dieses absurde Spiel „Bundesliga Saison 2024/25“ gespielt, mit welchem Ernst, welchem Spaß, welcher Wut über ungerechte Ergebnisse oder Schiris? Wir haben uns verloren in einem Sinn, den es nicht von alleine gibt – übrigens wichtig, sich das immer wieder bewusst zu machen (erleichtert auch Internet-Beef mit dem Establishment 😉). Die Spieler sind schmerzhaft und stoisch über ihre Leistungsgrenzen gegangen, monatelang. Und wofür? Nur damit die ganze Mühe im August von vorne anfängt.

Das hat schon Züge von Wahnsinn; oder eben – wenn es selbst gewählt ist – von autonomem Leben. Wie Sisyphos entscheiden wir selbst, ob wir unserem Dasein diesen Sinn geben, den wir FC St. Pauli nennen. Wenn der Jolly Roger als Flagge der Revolte gegen die Sinnlosigkeit von allem steht, dann sind wir auf Alberts Spuren unterwegs.

„Ich empöre mich, also sind wir“

Wenn schon absurd, dann bitte gemeinsam. Wir geben diesem Verein seinen Sinn und Solidarität* erwächst aus der gemeinsamen Revolte (gegen den modernen Fußball, gegen Blut- und Boden Faschos überall, gegen Discophobie, gegen ungerechtfertigte Elfmeter auch … you name it); der Erkenntnis, dass die meisten Menschen, die da mit uns auf den Geraden und Kurven stehen, einige Spieler auf dem Rasen auch, dieselbe Wahl getroffen haben, in einer sinnlosen und brutalen Welt, per solidarischer Revolte einen selbstgewählten Sinn zu leben.

Ein richtiger Fußball im Falschen, er ist also doch möglich.

Der Stein liegt jetzt wieder am Fuß des Saisonberges, wir ruhen ein wenig aus und sammeln Kraft, um der selbstgewählten Anstrengung, die wir „Saison 2025/26“ nennen werden, gegenüber zu treten. Autonom, solidarisch, revoltierend – und was mich angeht mit viel Tanz, Musik und Schnickschnack (allein schon, um gegen Verwertungslogiken, den absurden Zwang zur Effizienz und gegen Bodenständigkeit an sich zu revoltieren)

In diesem Sinne:

„Der Kampf gegen den Abstieg vermag ein Menschenherz auszufüllen“

Frei nach Albert Camus

* Zugleich ist die Revolte das Fundament von Camus’ gefühlsbasierter Ethik der Menschlichkeit: Die Empörung angesichts von Unmenschlichkeit und Leid führe den Menschen aus der Einsamkeit heraus zur Solidarität mit seinen Mitmenschen. In der Revolte werde der Mensch vom «solitaire» zum «solidaire» und kämpfe für etwas, das ihn mit allen Menschen verbindet – die menschliche Würde. (SRF)

Fediverse-Reaktionen

7 Antworten

  1. Sehr schön geschrieben…

  2. @stpaulipop 😲
    … bitte um Kindler Literaturlexikon 🙈

    1. Ich verstehe deinen Kommentar nicht 😉
      (Hab doch mein KuWi Studium abgebrochen, um Blogger zu sein ;))

  3. @stpaulipop
    Alles schön und gut, aber warum waren die Farben so wie sie waren angeordnet
    🤍❤️🤎?
    🤎🤍❤️!
    😉

    1. @HerrGuenni @stpaulipop Einfach absurdes Theater? Ich hab kP – keine Peilung.

      1. @ring2
        Ich fand es einfach irritierend.
        @stpaulipop

        1. Schau an, mir isses gar nicht aufgefallen. Aber im Norden sind wir ja immer auch noch ein bisschen absurder unterwegs, als anderswo im Stadion 😉

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