Das Herz von St. Pauli Dilemma

Unter der Ankündigung des FC St. Pauli, das Sujet „Herz von St. Pauli“ weiter zu untersuchen, hat ein lieber Bekannter, Andreas Wietholz, das Dilemma des Diskurses gut beschrieben. Mit seiner Erlaubnis reposte ich dies hier:

Die ethische Krise des schönen Liedes: Kunst, Moral und der Schatten der Vergangenheit

Einleitung: Das Dilemma der Enthüllung

Ein Lied, das seit zwei Jahrzehnten die Herzen bewegt, eine Hymne, die Gemeinschaft stiftet und Freude spendet – und dann der Schock: Der Schöpfer dieser Musik war ein überzeugter Nationalsozialist. Diese Enthüllung stellt die Fangemeinschaft vor eine tiefgreifende Frage: Kann man das Lied weiterhin singen, oder wird jede Note von der Ideologie des Urhebers kontaminiert?

Die Debatte ist keineswegs neu. Immer wieder stehen Kunstwerke vor dem Tribunal der Geschichte, wenn sich herausstellt, dass ihre Schöpfer moralisch fragwürdige oder gar verbrecherische Ansichten hatten. Doch wie sollen wir als Gesellschaft mit einem solchen Fall umgehen?

  1. Die Trennung von Werk und Schöpfer

Ein klassischer Ansatz ist die Werk-Schöpfer-Trennung, bekannt als „Death of the Author“ (Roland Barthes). Diese Theorie besagt, dass ein Kunstwerk – einmal in die Welt entlassen – unabhängig von seinem Schöpfer betrachtet werden kann. Ein Lied kann schön sein, unabhängig davon, wer es geschrieben hat.

Doch ist das wirklich haltbar? Kritiker dieser Sichtweise argumentieren, dass Kunst nie im luftleeren Raum entsteht. Der kreative Akt trägt immer Spuren der Persönlichkeit des Künstlers. Wenn der Schöpfer ein überzeugter Nazi war, könnte man argumentieren, dass seine Weltanschauung zumindest indirekt in sein Werk eingeflossen ist – sei es durch die Tonalität, die Texte oder die zugrunde liegende Ideologie.

  1. Die moralische Verantwortung der Rezeption

Jenseits der Frage, ob das Werk an sich „belastet“ ist, stellt sich die ethische Frage der Rezeption: Wenn wir dieses Lied weiterhin singen, legitimieren wir damit ungewollt seinen Urheber? Unterstützen wir retrospektiv eine Person, die eine menschenverachtende Ideologie vertreten hat?

Hier wäre eine Analogie zu Richard Wagner angebracht. Seine Musik ist unbestreitbar ein Meilenstein der klassischen Komposition, doch seine antisemitischen Überzeugungen und seine Vereinnahmung durch die NS-Ideologie machen ihn problematisch. Dennoch wird er weiterhin gespielt, allerdings oft mit einer kritischen Einordnung.

Eine Lösung könnte also sein: Man kann das Lied weiterhin singen, aber nicht naiv. Es erfordert eine bewusste Auseinandersetzung mit seiner Herkunft.

  1. Der kulturelle Wandel eines Kunstwerks

Ein weiterer Ansatz wäre, die Möglichkeit eines kulturellen Wandels des Werkes zu betrachten. Kann ein Lied mit einer belasteten Vergangenheit durch die jahrzehntelange Aneignung und Umdeutung durch die Fans von seinem ursprünglichen Kontext gelöst werden?

Hier hilft der Begriff der „Memetik“ (Richard Dawkins): Kulturelle Elemente entwickeln sich weiter und verändern ihre Bedeutung je nach Kontext. Ein Lied, das ursprünglich von einem fragwürdigen Komponisten stammt, könnte sich durch die Art und Weise, wie es über Jahre hinweg rezipiert wurde, seiner ursprünglichen Ideologie entziehen.

Wenn das Lied also nicht explizit propagandistisch ist, sondern von den Fans längst mit neuen, positiven Bedeutungen gefüllt wurde, könnte argumentiert werden, dass es nicht mehr „seinem Erfinder gehört“.

  1. Pragmatismus vs. Prinzipienfestigkeit

Es gibt jedoch auch die prinzipientreue Position: Egal, wie schön ein Werk ist – wenn es von einem Nazi stammt, sollte es nicht mehr gesungen werden. Diese Haltung legt den moralischen Maßstab an den Ursprung des Werkes an und sagt: Wir akzeptieren keine Kunst aus solchen Händen, weil wir damit eine Grenze ziehen müssen.

Der pragmatische Gegenvorschlag wäre: Solange das Werk selbst keine menschenverachtenden Inhalte transportiert, muss man sich fragen, ob ein Totalverzicht auf es nicht eher einer überzogenen „Cancel Culture“ gleicht, die die Realität historischer Verstrickungen nicht akzeptieren will.

Fazit: Eine Frage des Bewusstseins

Letztlich gibt es keine eindeutige philosophische Antwort, die alle zufriedenstellt. Eine Entscheidung muss kontextabhängig getroffen werden:
• Ist das Lied durch seine lange Nutzung bereits von seinem Schöpfer emanzipiert?
• Hat das Werk selbst problematische Inhalte oder ist es ideologisch neutral?
• Kann es mit einer kritischen Reflexion weiterhin gesungen werden?

Vielleicht ist die beste Lösung ein Mittelweg: Das Lied kann weiterhin gesungen werden – aber nicht unreflektiert. Ein Bewusstsein für seine Geschichte, eine Auseinandersetzung mit dem Schöpfer und eine klare Distanzierung von seiner Ideologie sind erforderlich. Kunst ist niemals statisch, sondern lebt von der Interpretation.

Wenn ein Lied in den Herzen der Menschen längst zu etwas Eigenständigem geworden ist, sollte man es nicht vorschnell aufgeben. Doch man sollte es auch nicht unkritisch weiterführen, als wäre nie etwas gewesen.

Comments

6 Antworten zu „Das Herz von St. Pauli Dilemma“

  1. Avatar von Michael von Hacht
    Michael von Hacht

    Top geschrieben und beschrieben. Man muss ein Dialog finden und Meinungsaustausch betreiben. Dann können wir das Lied ohne Bedenken weiter singen. Es gehört doch schon seit über 20 Jahren zu uns und die Fans bringt es zusammen und Menschen auch.Das ist doch etwas positives .Wir setzen uns doch trotzdem mit der Vergangenheit auseinander und niemand soll es vergessen, aber wir und die Punkband haben was positives schönes und verbundenen daraus gemacht und das sollte im Vordergrund jetzt stehen.

  2. Avatar von Kurti
    Kurti

    Erik, Danke für Deine Gedanken !
    Meine Antworten:
    • „Ist das Lied durch seine lange Nutzung bereits von seinem Schöpfer emanzipiert?“
    JA
    (übrigens, der Komponist war M. Jary in den 50er Jahren, Texter mit nationalsozialistischer Vergangenheit war Ollig)
    • „Hat das Werk selbst problematische Inhalte oder ist es ideologisch neutral?“ NEIN
    In keinem Wort oder in keiner Zeile findet man problematische Aussagen. Die gespielte Version ist dazu eine
    ‚Punk-Interpretation‘.
    • „Kann es mit einer kritischen Reflexion weiterhin gesungen werden?“
    JA
    Wird sollten in Zukunft vor dem Absingen das Lied durch einen einleitenden Kommentar begleiten und in einen antifaschistischen Kontext stellen.

    1. Avatar von Erik

      Danke, der guten Form halber: der Text ist von Andreas. 😉

  3. Avatar von Harry
    Harry

    Gut und verständlich geschrieben. Hab mich daran erinnert gefühlt, als ich letzte Woche in Berlin die Straße des 17.Juni entlang fuhr und überall die üppigen Leuchten am Straßenrand sah, die von Albert Speer entworfen worden sein sollen. Offenbar haben sich die BerlinerInnen damit auch arrangiert.
    Sich damit auseinandersetzen – natürlich, aber auch beibehalten können. Ich meine , wir haben uns das Lied angeeignet!

  4. Avatar von Peter
    Peter

    Ein hilfreicher, differenzierter Beitrag, zu dem ich ein paar Anmerkungen habe.
    1. Auch wenn wir das Lied schon lange so singen als hätten wir es vom Texter emanzipiert – aus meiner Sicht haben wir das nicht. Emanzipation braucht einen bewußten Prozess, der hat bisher nicht stattgefunden. Der könnte jetzt im Rahmen der weiteren Klärung stattfinden – das werden wir sehen – dafür sind auch die vertiefenden Recherchen von Bedeutung.
    2. Auch, dass der Text keine problematischen Teile hat ist für mich nicht eindeutig. Einige Teile mit starken lokalpatriotischen Aussagen können vor dem neuen Hintergrund durchaus anders interpretiert werden. Nun bin ich diesbezüglich kein Experte – auch da warte ich noch auf neue Expert:innen Textanalysen – sondt bewegen wir uns nur im gefühlten Bereich – und da nehme ich als kritischten Teil „das liegt uns so im Blut“ wahr.
    3. Für mich ist in dem Sinne auch nicht die Frage ob wir das Lied weiter Singen können – das tun wir ja gerade nicht. Wie immer bei einer solchen Störung gilt innehalten und klären. Danach kann entschieden werden ob wir es wieder Singen und in welcher Form – auf jeden Fall bewusster. Und das geht aus meiner Sicht auch nur, wenn es dazu ein breites „Ja“ gibt. Sonst kann die bisherige sarke emotionale Gemeinsamkeit nicht neu entstehen.

  5. Avatar von Dan Icon
    Dan Icon

    Der Autor hat aus meiner Sicht einige interessante kulturphilosophische Perspektiven angerissen und damit gezeigt, dass es grundsätzlich möglich wäre, den Song weiter in bisheriger Weise zu verwenden. Allerdings hat er aus meiner Sicht die Seite derjenigen, die den Song singen etwas wenig beleuchtet.
    Wer oder was ist St Pauli ist die Frage, die dahinter steht. Sind wir diejenigen, die zwischen Werk und Schöpfer trennen oder doch eher moralisch auf der rigorosen Seite #keinvergebenkeinvergessen? Wie oft legen wir die Finger in die Wunde bei anderen, deren Offenheit für menschenverachtende, rassistische, sexistische oder anderweitig diskriminierende Positionen wir mit Recht kritisieren?
    Ich denke, dass viele Vereine einen Song wie das Herz von St Pauli weiter als Stadionhymne verwenden könnten, wir mit dem immer wieder in verschiedensten Kontexten geklärten Ansprüchen an unsere klar antifaschistische Position können das nicht tun, sollten sich die ersten Erkenntnisse zum Texter bewahrheiten.

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